»Interview mit Lera Auerbach«
(Tobias Niederschlag für die Staatskapelle Dresden)
Was empfinden Sie, wenn Sie jetzt mit einem spirituellen Auge auf Dresden schauen, während Sie an der neuen Komposition arbeiten?
Nach der Zerstörung am Ende des Zweiten Weltkriegs ist Dresden zu einem Brennpunkt der Versöhnung und des Gedenkens geworden; eine Stimme, die sowohl unglaubliche Trauer als auch Erneuerung zum Ausdruck bringt. Die wunderschöne Dresdner Frauenkirche ist eine physische Manifestation dieser Entwicklung. Sie wurde Stein für Stein durch Spenden aus der ganzen Welt wieder aufgebaut. Dieses musikalische Werk für Dresden und die Frauenkirche ist mein persönlicher Beitrag als Komponistin zum Geist und zur Kraft der Wiedergeburt und der Erinnerung.
Natürlich ist es sehr persönlich, wenn ich nach Ihrem eigenen Verhältnis zum Tod frage, aber ich wage es trotzdem zu fragen. Denn im Dresdner Requiem haben Sie den liturgischen Text des lateinischen Requiems vertont, den Übergang vom irdischen zum ewigen Leben.
Jede Schöpfung – sei es ein Requiem, eine Sinfonie, ein Roman oder auch ein menschliches Leben – umfasst sowohl einen Anfang als auch ein Ende in der Zeit. Aber die Zeit ist kein Fluss und fließt nicht nur in eine Richtung. Unsere Zukunft und unsere Vergangenheit sind im gegenwärtigen Augenblick eins. Während also das Bewusstsein der Zeit uns ständig den Tod bewusst macht, glaube ich, dass der Tod uns das Leben bewusster macht. Mein Requiem ist, wie jede musikalische Komposition, ein Essay über die Zeit. Und über das, was wir in der Zeit und mit der Zeit tun wollen. Es geht mehr um das Leben als um den Tod.
Im Jahr 2007 wurde Ihr „Russisches Requiem“ uraufgeführt. Gibt es etwas ‚Typisches‘ an der Art und Weise, wie Sie sich intensiv mit diesem Thema auseinandersetzen?
Ohne sich des Todes voll bewusst zu sein, kann man sich des Lebens nicht voll bewusst sein.
Eine enge Verbindung zwischen Musik und Text scheint Ihnen wichtig zu sein …
Ich bin in einer geschlossenen Stadt im russischen Ural, in der Nähe von Sibirien, aufgewachsen. In meiner Familie gab es eine große Leidenschaft für Musik, Kunst und Literatur. Bereits im Alter von vier Jahren konnte ich bereits lesen und schreiben und komponierte meine ersten Werke.
Eine Anmerkung: Sie bieten (nur) zwei Sologesangspartien an, eine davon ist eine Partie für Countertenor. Das ist ungewöhnlich und spannend. Welche Funktion erfüllt er in Ihrem künstlerischen Konzept für Ihre neuen Komposition?
Stimme und Klang eines Countertenors sind transzendental. In diesem Requiem gibt es keine Frauenstimmen, nur Männer und Knaben. Historisch gesehen waren es – mit wenigen Ausnahmen – Männer, die Nationen in den Krieg geführt haben. Solange aber Jungen singen, besteht die Hoffnung, dass sich die Fehler der Vergangenheit nicht endlos in den unendlichen Spiralen des Leids wiederholen. Solange es kleine Jungen gibt, die Geigen statt Gewehre tragen – solange gibt es Hoffnung.
(Übersetzung: Hans-Ulrich Duffek)
»Keine noch so hehre Idee ist es wert, Gewalt und Grausamkeit zu rechtfertigen«
Die Komponistin Lera Auerbach im Gespräch mit Tobias Niederschlag
Frau Auerbach, Sie sind in dieser Saison Capell-Compositrice der Sächsischen Staatskapelle Dresden und waren jetzt mehrfach in Dresden zu Gast. Wie verbunden fühlen Sie sich inzwischen der Stadt und ihren Bewohnern?
Wenn ich an einem so großen Werk wie diesem Requiem arbeite, dann tauche ich gern komplett in die damit verbundene Welt ein, umgebe mich mit ihrer Geschichte und ihren Bildern, damit ich selber zu einer Art Instrument werden kann. Die befriedigendste Erfahrung für mich als Komponistin ist der Moment, an dem ich den Eindruck erhalte, dass das Werk sich wie von alleine schreibt und ich es nur von irgendeiner Quelle aus übertrage oder übersetze, an der das Werk bereits existiert. Damit mir das gelingt, muss ich mich in seine Zwischentöne einstimmen.
Obgleich ich also physisch bisher noch nicht so oft in Dresden war, ist die Stadt im letzten Jahr täglich in meinen Gedanken gewesen, und ich fühle mich dieser Stadt sehr nah.
Sie sind eine russisch-amerikanische Komponistin jüdischer Herkunft. Was bedeutete es für Sie persönlich, ein Requiem für den Jahrestag der Zerstörung Dresdens im Zweiten Weltkrieg zu komponieren?
Meine Familie stammt aus Österreich. Im 19. Jahrhundert zogen meine Vorfahren in die Ukraine um. Den Zweiten Weltkrieg haben meine Großeltern nur mit großer Not überlebt, sie flohen vor der deutschen Armee nach Sibirien, wo sie auch nach dem Krieg blieben (ich wurde dreißig Jahre später in der Stadt Tscheljabinsk geboren). Meine Urgroßmutter ging in der Panik der überfüllten Züge während der Evakuierung verloren. Meine Großeltern haben sie nie wiedergefunden.
Damals überlebte meine Familie auch nur mit großen Mühen den Terror Stalins. Mein Großvater wurde inhaftiert und in einen Gulag geschickt, mein Großonkel wurde vom KGB erschossen. Als Kind kannte ich kein einziges Wort auf Hebräisch und wusste nichts vom Judentum (ich wurde vielmehr von einem katholischen Kindermädchen aus Polen aufgezogen, das mit der Zeit zu einem Familienmitglied wurde). Und dennoch wusste ich nur zu gut, dass ich jüdisch war – dies stand als »Nationalität« in allen offiziellen Papieren. Man konnte den Antisemitismus im alltäglichen Leben spüren – von quasi unschuldigen Witzen anderer Kinder bis hin zu offener Feindseligkeit. Mein Großvater, der den Gulag überlebte, weigerte sich, mir Jiddisch beizubringen. Wenn ich ihn als Kind darum bat, dann sagte er, dass ich meine Portion Leiden auch so abbekommen würde.
Der einzige Weg, wie die Menschlichkeit vorangebracht werden kann, liegt in der Erinnerung (durch das Bewahren, Verstehen und Studieren der Geschichte) und im Vergeben; indem man das menschliche Leben respektiert, die Unterschiede jedes Einzelnen akzeptiert, indem man sich bemüht, jede Kultur auf einer emotionalen Ebene zu verstehen, und indem man die Schmerzen und Freuden der anderen nachempfinden kann. Ich glaube, dass man an erster Stelle ein Bürger der Welt, dieses Planeten »Erde« sein sollte – und erst danach Bürger eines Landes, Mitglied einer religiösen Gemeinschaft, einer politischen Gruppierung etc.
Es wurde bereits so viel Blut vergossen »im Namen Gottes« oder für das »Heimatland«, für den Kommunismus, den Nationalismus oder irgendeinen anderen schön verpackten »Ismus«. Keine noch so hehre Idee, wie edel sie auch immer erscheinen mag und in welchem Buch sie aufgeschrieben wurde und von wem; kein Wesen – weder Mensch noch Gottheit – kann die Gewalt und Grausamkeit rechtfertigen, die die Menschen über die Zeiten hinweg immer wieder über sich gebracht haben. Und selbst wenn es Führer, Götter oder Ansichten geben sollte, die solches Blutvergießen rechtfertigen könnten – dann sind sie es nicht wert, dass man ihnen folgt. Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem wir uns entweder gegenseitig zerstören können oder Vergebung, Mitgefühl und Güte lernen müssen. Jeder von uns ist ein Denkmal seiner Zeit – das dafür steht, wie man sich an diese Zeit erinnern wird. Jeder von uns wird sterben. Wie wir unsere Energien einsetzen, während wir körperlich in dieser Welt anwesend sind, hängt von jedem Einzelnen selber ab. Und was vielleicht das Wichtigste ist: Wird man für sich selber denken und aktiv seine Entscheidungen treffen, oder wird man einfach Befehle von oben befolgen und den Massen folgen, ohne zu fragen, wohin sie einen führen?
Das Requiem wird in den Gedenkkonzerten der Staatskapelle in der Frauenkirche und in der Semperoper uraufgeführt – zwei Orte, die für die Zerstörung und den späteren Wiederaufbau stehen. Hat Sie das beim Komponieren beflügelt?
Ja. Dieses Requiem mit dem Untertitel »Dresden – Ode an den Frieden« spiegelt genau diese Dualität wider – Tod und Auferstehung, Trauer und Hoffnung.
Was war Ihnen in musikalischer Hinsicht wichtig?
Einen einzigartigen Raum zu schaffen, in dem unterschiedliche Religionen und Nationen harmonisch nebeneinander existieren können. Eine Form zu schaffen, mit der man sich der Vergangenheit erinnern und die Toten ehren kann, die sich aber letztlich an die Lebenden und an unsere Gegenwart richtet, und die außerdem von der Zukunft und ihrer Vision von Hoffnung kündet. Mehr als 40 Sprachen sind in diesem Werk gegenwärtig. Und soweit mir bekannt ist, ist dies auch die erste Vertonung von islamischen, buddhistischen und hinduistischen Gebeten in der westlichen Musik.
Sie stellen den Aspekt der Hoffnung ins Zentrum Ihres Werkes – glauben Sie noch an ein friedliches Zusammenleben der Menschen auf diesem Planeten?
In diesem Requiem »Dresden – Ode an den Frieden« gibt es ein friedliches und harmonisches Nebeneinander von mehr als 40 Nationen (dargestellt durch die im »Kyrie«-Satz verwendeten Sprachen). In den letzten beiden Sätzen sind gleichzeitig Gebete aus den fünf Hauptreligionen – Christentum, Judentum, Islam, Buddhismus und Hinduismus – vertont. Musik existiert auf einer höheren Ebene, und jeder Gedanke muss sich erst auf diesem Niveau formen, bevor er sich physisch manifestieren kann. Wenn es aber möglich ist, diese friedliche Koexistenz verschiedener Nationen und Religionen innerhalb des Mikro-Universums einer einzigen Komposition zu schaffen; und wenn es möglich ist, dass ein paar Tausend Menschen dies während der Aufführungen in Dresden erleben – dann muss es doch auch möglich sein, dies in die physische Existenz zu übertragen, die wir Leben nennen. Ich zumindest habe mich dafür entschieden, daran zu glauben.
(Aus dem Englischen übersetzt von Jürgen Hübner)